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Mittwoch, 1. November 2017

Henry




Prolog

Henry war dreiundzwanzig Jahre, als er verschwand. Das letzte Mal wurde er am 18. Oktober gesehen.


1.

Henry fühlte sich komisch. Er hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Die Lider waren wie mit Blei beschwert. Sein Mund war trocken. Die Arme schmerzten. Die Beine spürte er gar nicht mehr. Er hob den Kopf leicht an. Es war dunkel. Der Mond schien voll vom fast sternenlosen Firmament. Dunkle Wolken verfinsterten die Stimmung noch. 
Henry versuchte, in der Nacht etwas auszumachen. Wo war er? Er wollte umhertasten, aber er konnte den Arm nicht bewegen. Er versuchte es einige Male, bis er bemerkte, das er festgebunden war. Dicke Stricke schnitten ihm ins Fleisch. Aber er spürte keinen Schmerz. Als er die Beine bewegen wollte, stellte er fest, das man sie ebenfalls festgebunden hatte.
Was zum... ? dachte er wütend. Mieser Scherz!
Dann sah er an sich hinunter. Er konnte den Boden unter seinen Füßen nicht sehen. Er starrte lange in die Dunkelheit, bis seine Augen sich ans matte Mondlicht gewöhnt hatten. Dann sah er, das er über dem Boden zu schweben schien. Nein, er hing! Man hatte ihn festgebunden! An einer Art Kreuz, die Arme rechts und links vom Körper weg, die Beine gerade hinunter, an den Knöcheln zusammengeschnürt.
Er zerrte und zog mit aller Kraft an den Seilen in der Hoffnung, sie würden sich lösen. Nichts tat sich.
Als er sich weiter umsah, bemerkte er das Feld, das ihn umgab. Fast schon brach liegendes Ackerland, das niemand zu bewirtschaften schien. Vereinzelt konnte er Furchen erkennen, wo einst etwas gewachsen war. Alles verdorrt und tot.
Er zerrte weiter an den Seilen. Er wollte freikommen! Doch nach einer ganzen Weile gab er es auf. Er hing einfach so da, ohne zu wissen, was er tun sollte.


2. 

Wie ein Blitz traf ihn plötzlich die Erinnerung. Er sah Greg, wie er im Wohnzimmer saß. Maggi saß neben ihm auf dem Sofa, die Hände im Schoß, nervös mit den Fingern spielend. Greg redete mit monotoner Stimme auf sie ein. Etwas Bedrohliches schwang in seinen Worten mit. 
Was mache ich hier? fragte sich Henry. Dann fiel es ihm wieder ein: Greg hatte ihn angerufen. Er hatte gesagt, er solle am Abend bei ihm zu Hause vorbeikommen, er habe mit ihm über Maggie zu reden. Henry war mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube hingefahren. Seine Mutter hatte ihm ihr Auto geliehen. "Bring es aber heil zurück," hatte sie noch augenzwinkernd gesagt.
Und jetzt saß er Greg und Maggi gegenüber, auf einem Sessel, der schon richtig ausgeleiert war. Bestimmt war es Gregs Lieblingssessel, hatte er noch gedacht. Der Fettsack kriegt alles klein. Er rutschte unruhig etwas hin und her, dabei stieß er mit dem Ellbogen gegen eine ausgestopfte Krähe, die mit ihren toten Augen in seine Seele zu blicken schien und sein Unbehagen verstärkte. 
"Hörst du mir überhaupt zu?" fragte Greg plötzlich in lautem Tonfall. Keine Spur mehr von Monotonie. Henry schreckte auf. "Sicher."
"Ich kann das mit euch beiden einfach nicht erlauben!" schrie er jetzt fast. "Ihr werdet euch von heute an nicht mehr sehen, ist das klar?!"
Dann deutete er mit einem Wurstfinger auf die offene Küche: "Maggi, geh jetzt. Ich will mit Henry noch unter vier Augen reden." Und Maggi war völlig verängstigt aufgestanden und ohne ihn eines letzten Blickes zu würdigen in die Küche gegangen.
"Henry," begann Greg, und seine Stimme sollte wohl etwas Vertrauenswürdiges annehmen, "du bist ein netter Junge. Aber das ist nicht das, was mir für Maggi vorschwebt, verstehst du?"
Henry verstand nicht, und so sagte er auch nichts.
"Es ist zu ihrem Besten. Wenn du sie wirklich liebst, dann lässt du sie in Ruhe."
Das waren Gregs Worte, aber Henry hörte das Ganze in seinem Kopf so: "Ich will nicht, das du und Maggi heiratet, weil sie mir gehört. Wenn sie geht, bin ich allein, und ich bin viel zu faul und blöd, um mich um mich selbst zu kümmern. Also muss sie bei mir bleiben, weil ich dummer Arsch nichts allein auf die Reihe kriege und ohne meine Schwester verloren wäre."

Henry starrte in die Dunkelheit. Was war dann passiert? Als er in das von Wolken verhüllte Mondlicht schaute, fiel ihm alles schlagartig wieder ein.

Er hatte Maggi ein paar Tage später angerufen. Er wusste, das Greg um die Uhrzeit seinen Mittagsschlaf hielt. Und er hatte einen festen Schlaf, nicht mal ein Erdbeben hätte den wecken können. Maggi war verschreckt und verängstigt. Sie sagte, Greg habe ihr gedroht. 
"Wir treffen uns heute nacht um elf auf dem alten Feld. Ich hol' dich da raus. Wir gehen zusammen fort. Nimm' nur das Nötigste mit. Es wird alles gut, Maggi, vertrau' mir!"
Er war so aufgeregt, das er bereits um zehn am alten Feld war. Hier hatte seit Jahren niemand mehr was angebaut. Alles lag brach, das Land war tot. Mitten im Feld stand eine alte Vogelscheuche. Naja, das was noch davon übrig war. Das Stangenkreuz war noch da, und daran hingen ein paar Fetzen Stoff und etwas Stroh. Hier war ihr geheimer Treffpunkt gewesen, seit sie sich kannten. Das lag schon vier Jahre zurück.
Henry wurde immer nervöser. Er sah sich ständig nach Maggi um. Immer wieder der Blick auf die Uhr. Jede Minute zog sich wie Stunden. Dann vernahm er leise Schritte. 
"Ich bin hier, Maggi!" rief er leise. "Hier, bei der Vogelscheuche!"
Er konnte in der Dunkelheit nichts sehen. Dann spürte er plötzlich einen harten Schlag auf den Kopf. Alles wurde schwarz.


3.

Greg! dachte er. Vor lauter Wut, die jetzt in ihm aufkeimte, riss und zerrte er erneut an den Stricken. Er hatte noch immer kein Gefühl in den Gliedern und merkte nicht, das eines der Seile sich langsam lockerte. Dieses miese Stück! Der Zorn wuchs und wuchs, und langsam kämpfte er sich aus der Gefangenschaft frei. Mit einem Mal hatte er die Hände losgerissen und verlor den Halt. Er kippte fast nach vorne über, konnte sich aber noch abfangen. Mit etwas Geschick - das unter den gegebenen Umständen schwer aufzubringen war - gelang es Henry, auch die Beine loszubinden. Dann stürzte er zu Boden. Doch er spürte keinen Schmerz.
Das kam ihm im Moment nicht seltsam vor, so wütend war er auf Greg. Er hatte ihn hier oben festgebunden! Konnte gar nicht anders sein! Er musste also schnell machen, ehe er Maggi etwas antun würde.
Henry rappelte sich auf und begann zu rennen. Er rannte durch die kalte Nacht zu Gregs und Maggis Haus. Dort war alles dunkel. Kein Licht. Es musste schon spät in der Nacht sein. Wie lange er wohl da oben bewusstlos gehangen hatte? fragte er sich einen Sekundenbruchteil. Doch eigentlich war es ihm jetzt egal. Er wollte nur zu Maggi, wollte Greg zur Rede stellen und seine Liebste aus ihrer Gefangenschaft befreien, um mit ihr fortgehen zu können.
Mit seltsam unbändig kraftvollen Schritten rannte er auf die Tür zu. Er hämmerte dagegen und rief laut:
"Greg, du mieses Stück, komm raus und stell dich!" Und er rief Maggis Namen, einige Male, voller Furcht, ihr könnte bereits ein Leid geschehen sein.
Immer wieder hämmerte er mit den Fäusten gegen die Tür. Drinnen war es so ruhig wie es dunkel war. Nichts regte sich. Schließlich trat Henry einige Male mit voller Wucht gegen die Tür. Diese barst aus den Angeln und gab den Weg ins Haus frei.
"Greg!" schrie Henry, jetzt endlich außer sich vor Zorn und Hass. "Greg! Stell dich, du Feigling!" Und wieder rief er laut nach Maggi.
Doch nichts, kein noch so leises Geräusch konnte er vernehmen. Henry wollte Licht anmachen, doch in keinem der Zimmer gingen die Lampen an. 
"Maggi! Wo bist du?" schrie er in alle Richtungen. "Ich hol' dich jetzt hier raus! Greg wird dir nichts anhaben!"
Eilig lief er die Stufen in den oberen Stock hinauf. "Maggi! Maaaggi!" Er rannte in alle Räume, doch weder in ihrem Zimmer, noch in Gregs Schlafzimmer war jemand ausfindig zu machen. Auch die Badezimmer waren leer. Alles war von Finsternis umgeben, doch er konnte erkennen, das alles hier alt und verstaubt aussah. Als wäre seit Jahren niemand mehr hiergewesen.
"Maggi!" schrie er verzweifelt. Greg musste ihr etwas angetan haben. Die Angst in Henry wuchs unaufhörlich. Schnell jetzt, runter in den Keller. Doch auch hier ließ sich kein Licht entfachen, und so tappte er in der Dunkelheit umher und brüllte sich die Kehle aus dem Leib.
Niemand war hier. Henry war verzweifelt. Was war nur passiert?


4.

Kraftlos saß er auf dem Sessel, auf dem er während des Gesprächs mit Greg gesessen hatte. Er konnte sich einfach nicht erklären, was hier los war. Wo hatte Greg so schnell mit Maggi hingehen können? Und warum wirkte im Haus alles so, als wäre es lange nicht bewohnt? Was sollte er nur tun? 
Dann fiel ihm Pater Thomas ein. Er und Maggi hatten mit ihm gesprochen. Sie hatten sich von ihm trauen lassen wollen. Er hatte gewusst, was sie vorhatten, das sie weggehen und Maggi sich von Greg lossagen wollte.
Henry sprang auf und rannte los. Die Wut trieb ihn an, verlieh ihm schier endlose Kraft. Obwohl er seine Beine, seine Füße und den Boden darunter nicht spüren konnte, rannte er problemlos Richtung Pfarrhaus. Thomas wird wissen, was geschehen ist, dachte er.
Das Pfarrhaus war ebenso dunkel wie Gregs Haus. Henry hatte keine Ahnung, wie spät es sein konnte. Als er sich an seine Uhr erinnerte stellte er fest, das sie weg war. Greg hatte sie sicher gestohlen.
Er pochte erst zaghaft an die Pfarrtür. Nach einer kurzen Weile, die Henry endlos erschien, pochte er erneut, diesmal heftiger. Wieder wartete er. Dann rief er: "Pater Thomas! Ich bin's Henry, ich brauche Ihre Hilfe!"
Endlich ging Licht im oberen Stockwerk an. Er hörte ein leises Poltern, und kurz nachdem auch unten im Wohnbereich das Licht entzündet wurde, öffnete sich die Tür. Ein grauhaariger Mann stand vor ihm und sah ihn mit seltsamen Blick an.
"Ich möchte zu Pater Thomas," sagte Henry. "Ich benötige dringend seine Hilfe."
"Wer sind Sie denn?" fragte der Alte mit gebrechlicher Stimme. Er begann, leise zu husten. "Kommen Sie erstmal rein, es ist so kalt." Er bot Henry einen Platz am Kamin, in dem er nun ein kleines Feuer entfachte.
"Ich bin Henry. Ich war bei Pater Thomas wegen... wegen Maggis und meiner Hochzeit."
"Henry?" fragte der alte Mann und ließ sich ihm gegenüber auf dem Sessel nieder. Er sah ihn mit einem ungläubigen Ausdruck im Gesicht an. "Henry? Das kann nicht sein!"
Henry war verdutzt. Überrascht fragte er: "Wieso? Ich bin Henry, niemand sonst!"
"Aber Henry ist seit Jahren verschwunden. Einen Tag nachdem er und Maggi bei mir waren, hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen."
"Bei Ihnen?" fragte Henry, verwirrt und ungläubig zugleich. 
"Ja, ich bin Pater Thomas. Bin es immer gewesen."
"Aber Pater Thomas war... als ich mit ihm gesprochen habe, war er höchstens vierzig. Und Sie sind... mit Verlaub, Sie sind viel älter. Sie können nicht Thomas sein!"
Der Alte lachte mit rauher Stimme, das es wie ein Krächzen klang. "Doch, mein Junge, ich bin Thomas. Niemand sonst."
"Was heißt, Henry... äh, ich, bin verschwunden?"
Der alte Mann seufzte schwer. Tränen traten in seine geröteten Augen.
"Wenn du wirklich Henry bist, willst du dann alles wissen, was geschehen ist, mein Sohn?" fragte der Alte traurig.
Henry nickte.
Thomas schürte das Feuer etwas mehr, schlurfte zum Spirituosenschrank, goss sich ein großes Glas Whisky ein, nahm einen tiefen Schluck und begann:


5.

Henrys Mutter war einige Tage, nachdem ihr Sohn nicht nach Hause gekommen war, zur Polizei gegangen. Sie erzählte dort, das ihr Sohn mit einem Mädchen - Maggi - heimlich hatte durchbrennen wollen. Deren Bruder - Greg - habe immer Probleme gemacht und hatte das Mädchen einsperren wollen. Sie habe Angst, das etwas passiert sein könnte.
Nach einiger Zeit gab die Polizei die Suche nach Henry zwar auf, aber sie konnten Greg dingfest machen. Greg hatte sich aus dem Staub machen wollen. Maggi sagte aus, das Henry am Abend, ehe er verschwunden ist, noch bei ihnen zu Hause gewesen sei. Greg sei laut geworden, und sie könne sich aufgrund seines groben und aufbrausenden Charakters gut vorstellen, das er Henry etwas angetan haben könnte.
Greg wurde immer wieder verhört. Doch es dauerte einige Monate, ehe er geständig wurde. Was er erzählte, erschütterte sogar die hartgesottensten Polizisten in Mark und Bein.

Greg hatte das Telefongespräch zwischen seiner Schwester und einem Anrufer - den er anhand ihrer Worte als Henry hatte erkennen können - mitgehört. Er hatte am Abend des Gesprächs mit dem jungen Mann schon den Plan geschmiedet, das Zusammenkommen der beiden zu vereiteln, sollten sie nochmals versuchen, sich zu treffen. 
Er wusste, das Maggi und Henry sich seit Jahren "heimlich" auf dem alten Feld bei der Vogelscheuche trafen. Er hatte Maggi in ihr Zimmer eingesperrt, natürlich nicht einfach so. Er hatte sie festgebunden, damit sie nicht doch entwischen konnte. Und dann war er zum Feld gefahren. Hier war er auch mehr als pünktlich auf den verhassten Widersacher getroffen. Mit einem Baseballschläger hatte er ihn bewusstlos geschlagen und in sein Auto verfrachtet. Er war wieder nach Hause gefahren und hatte Henry in den Keller geschleppt. Hier hatte er ihn auf einem Stuhl festgebunden. Als Henry aus seiner Ohnmacht erwachte, wollte er sich losreißen, doch die Stricke waren einfach zu fest und er fühlte sich benommen. Dann verabreichte ihm Greg eine Spritze. 
Er sagte: "Nur ein bisschen, mein Junge. Gerade so viel, das du auch deinen Spaß haben wirst!"
Verschwommen konnte Henry sehen, das er auf eine Art Operationstisch gelegt wurde. Greg verpasste ihm immer wieder Spritzen mit Beruhigungsmitteln, um ihn daran zu hindern, zur Besinnung zu kommen. Er sah noch die glänzenden Instrumente, mit denen Greg an ihm herumhantierte, war aber völlig bewegungsunfähig.

"Er war nicht das erste Tier, das ich ausgeweidet habe," sagte Greg dem Polizisten ihm gegenüber, der jetzt zu würgen begann. "Und dann habe ich ihn ausgestopft. Er hat sich mit Maggi immer an der Vogelscheuche auf dem alten Feld getroffen. Jetzt sollte er die Vogelscheuche sein und all die Paare warnen, die die selbe Unzucht im Sinn hatten wie er mit meiner Maggi!"


6.

Henry wurde blass. Noch blasser, als er sowieso schon war.
"Das kann nicht sein!" rief er erstickt. "Ich bin hier! Ich lebe!"
Pater Thomas nahm einen weiteren großen Schluck Whisky und schüttelte traurig den Kopf.
"Mein Sohn, ich weiß nicht wie es möglich ist, aber du bist schon lange nicht mehr unter uns. Daran besteht kein Zweifel."
Henry tastete seinen Körper entlang: die Arme, Hände, Finger, die Wangen und Lippen, die Augen, die Beine, die Brust und - mit zitternden Fingern - das Herz. Es schlug nicht. Alles war hart und kalt wie Stein. 
Dann entrang sich seiner Kehle: "Und Maggi? Was ist aus ihr geworden?"
Pater Thomas seufzte traurig.
"Sie lebte einige Zeit bei mir, hier im Haus. Doch sie hatte ein gebrochenes Herz. Es dauerte zwar einige Jahre, aber letztendlich starb sie daran. Sie siechte vor sich hin, ihrer Großen Liebe beraubt. Es tut mir leid, mein Sohn."
Der alte Mann erhob sich, legte Henry eine Hand auf die Schulter und sagte: "Du solltest jetzt deine Ruhe finden. Dann wirst du deine Maggi wiedersehen. Lass los, mein Sohn, und geh' nun."


Epilog

Dreiundzwanzig Jahre nach Henrys Tod sah man ihn wieder, denn der Zorn und Hass ließen seine Seele nicht ruhen. Was aus ihm geworden ist? Geht doch mal zum alten Feld und schaut nach der Vogelscheuche. Vielleicht ist es Henry, der dort hängt.


ENDE


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